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Stromland

Roman Berlin Verlag
Häuser am Amazonas

Die einsame Stadt

Entlang der Malecón Trapaca standen unter Sonnenschirmen die Karren der Eis-, Saft- und Obsthändler, und vor den buntbemalten Wänden der Häuser hockten Frauen und Männer in kleinen Gruppen, tranken Mate, sprachen leise miteinander, kauten. Aus den Juguerías drang Musik hinaus auf die Straße, jemand spielte auf einer Arpa, eine Frauenstimme sang, und der Gesang mischte sich mit den Gerüchen der Grillstände, über deren Glut Schildkrötenfleisch und Schweinebauch garten. Vom Fluss her zogen die Schwaden eines Feuers, irgendwo im trüben Wasser faulte Holz.

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Die einsame Stadt

Entlang der Malecón Trapaca standen unter Sonnenschirmen die Karren der Eis-, Saft- und Obsthändler, und vor den buntbemalten Wänden der Häuser hockten Frauen und Männer in kleinen Gruppen, tranken Mate, sprachen leise miteinander, kauten. Aus den Juguerías drang Musik hinaus auf die Straße, jemand spielte auf einer Arpa, eine Frauenstimme sang, und der Gesang mischte sich mit den Gerüchen der Grillstände, über deren Glut Schildkrötenfleisch und Schweinebauch garten. Vom Fluss her zogen die Schwaden eines Feuers, irgendwo im trüben Wasser faulte Holz. Sie waren stehengeblieben, Irina und Hilmar. Sie standen am Geländer der Promenade und sahen hinüber zu den dunkel geränderten Umrissen des Urwaldes, darüber ein fast weißer Himmel, keine Wolken, nur eine dünne Schleierschicht. Irina lehnte ihren Kopf gegen Hilmars Schulter. Sie war erschöpft, gereizt von der Hitze und den Wegen durch die Avenidas, durch den Dampf und die Gerüche der Grillstände, dem Motorengewirr, Stimmen, die sich Namen, Preise, Flüche zuwarfen wie Gegenstände; immer schien der Boden unter ihren Füßen in Bewegung; immer ging da noch einer neben ihr, hinter ihr, und wenn sie sich umwandte, war er verschwunden. Eine Weile sahen sie den Arbeitern unten auf den Pontons zu, die mit Paketen und Brettern beladen zwischen den Kähnen hin und her liefen. An der Promenade war es kühler als in den Avenidas, es ging ein leichter Wind, während in den Straßen die Luft trocken über den Wellblechhütten und Werkstätten flimmerte. Abends brachten Gewitter regelmäßig Abkühlung, ein frischer Wind kam den Fluss hinauf. Iquitos lag abseits jeder Straße zwischen dem Rio Nanay und dem Rio Itaya, die sich wie zerfaserte Wollfäden um die Stadt schlängelten, an die Promenade schwappten, die Stelzen von Belén umspülten und die Stadt immer weiter westwärts in den Urwald zogen. Vom großen Strom war nur ein stumpfes Leuchten zu sehen. Die Gewitter waren kurz und heftig. Man drängte sich in den Cafés, genoss den kühlen Wind, Kinder und Hunde flitzten über die Straßen, die im Regen schwarz wurden wie unermesslich tiefe Gräben.

Sie kommen von Norden und von Osten, sie kommen von den Küsten Venezuelas und aus den weiten Ebenen Perus.

Früher Morgen am Amazonas

Zwilling

Eins versteckt sich hinter dem anderen, es ist nicht zu sehen, es rührt sich nicht. Eins ist putzmunter, es zappelt und streckt die Gliedmaßen, das andere dagegen nur ein Schatten. Der Arzt betastet den prallen Bauch, er hört, kneift die Augen zu, presst die Lippen aufeinander, hm, kommt es räuspernd, während er sich die Hände wäscht und trocknet. Frau Mazek, Herr Mazek, er setzt sich, sieht die beiden an. Frau Mazek, Herr Mazek, sie werden Zwillinge bekommen, und wieder muss er sich räuspern, es sieht ganz danach aus, als würden sie Zwillinge bekommen

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Zwilling

Eins versteckt sich hinter dem anderen, es ist nicht zu sehen, es rührt sich nicht. Eins ist putzmunter, es zappelt und streckt die Gliedmaßen, das andere dagegen nur ein Schatten. Der Arzt betastet den prallen Bauch, er hört, kneift die Augen zu, presst die Lippen aufeinander, hm, kommt es räuspernd, während er sich die Hände wäscht und trocknet. Frau Mazek, Herr Mazek, er setzt sich, sieht die beiden an. Frau Mazek, Herr Mazek, sie werden Zwillinge bekommen, und wieder muss er sich räuspern, es sieht ganz danach aus, als würden sie Zwillinge bekommen. Die beiden schauen sich an, und die Frau öffnet ihren Mund, aber sie ist nicht in der Lage zu sprechen, sie schließt den Mund wieder, richtet sich auf und schiebt sich die Bluse über den Bauch, der Mann fährt sich mit der Hand über die Stirn, auch er sagt nichts. Meine Glückwünsche, sagt der Arzt. Da erwacht Herr Mazek, ein eigentümlich entrücktes Lächeln entspannt sein Gesicht und er nickt. Frau Mazek bindet sich die Schuhe. Also dann, sagt der Arzt. Sie reichen sich die Hände, Herr Mazek hält seiner Frau die Tür auf, hinter ihr geht er langsam aus der Praxis hinaus auf den Parkplatz und spürt dort noch, am Auto, die Blicke des Arztes Veil und der Sprechstundenhilfe Theissen. Frau Mazek gähnt, sie sieht bleich aus. Seit Tagen plagt sie eine furchtbare Müdigkeit, dass sie gar nicht mehr ihr Bett verlassen möchte, aber was sie möchte, muss ihr Geheimnis bleiben; also stemmt sie sich hoch, stellt die Beine auf den Teppich und wartet die erste Übelkeit ab. Hinter den Vorhängen dräut etwas. Sie hört die Geräusche unten aus der Küche, Gott, hab ich einen Hunger, sie schneidet sich ein Stück Blutwurst runter, taucht das Brot in den Muckefuck und lutscht daran bevor sie zubeißt. Die Alte hockt bei ihr am Tisch, sieht ihr zu, schält Äpfel fürs Kompott. Zwei also, sagt sie. Ja, zwei. Na, Platz ist genug. Aber mich reißt es bald auseinander, denkt Frau Mazek, ich mag nicht mehr. Herr Mazek fährt mit dem Zug nach Frankfurt auf die Postsortierstelle am Hauptbahnhof. Er sieht aus dem Fenster auf die vorüberziehenden Felder, Langen, Dreieich, die Randgebiete der Großstadt, er nimmt sich fest vor, seinen beiden Kindern später das Meer zu zeigen, sie müssen Danzig sehen, er will mit ihnen wandern, durch die Kaschubei, denn das alles wird auch ein Teil von ihnen werden.

Ein Mensch konnte einfach unsichtbar werden. Er konnte sich in Luft auflösen, ohne die kleinste Spur zu hinterlassen.

Nebel über dem Regenwald

Geister

Nein, ich habe keine Angst vor dem Tod, jetzt nicht mehr, mi patre, jetzt geht es mir gut. Ich liege hier und wiege sanft im Rhythmus meines Atems, ich bin ruhig, alles um mich herum ist ruhig, selbst die kleinen Äffchen, diese putzigen Wesen, sie sitzen auf den Querbalken, ihre Schwänzchen ringeln sie ein, da sitzen sie nebeneinander und betrachten mich mit ihren großen Augen, mi patre. Ich hielt sie immer für Geschöpfe des Teufels, sie sind ruhelos, hastig, sie klauen und scheißen uns auf den Altar, der Pater Pfeil hat einmal eine ganze Horde mit der Machete zerhauen, ich bezeuge es.

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Geister

Nein, ich habe keine Angst vor dem Tod, jetzt nicht mehr, mi patre, jetzt geht es mir gut. Ich liege hier und wiege sanft im Rhythmus meines Atems, ich bin ruhig, alles um mich herum ist ruhig, selbst die kleinen Äffchen, diese putzigen Wesen, sie sitzen auf den Querbalken, ihre Schwänzchen ringeln sie ein, da sitzen sie nebeneinander und betrachten mich mit ihren großen Augen, mi patre. Ich hielt sie immer für Geschöpfe des Teufels, sie sind ruhelos, hastig, sie klauen und scheißen uns auf den Altar, der Pater Pfeil hat einmal eine ganze Horde mit der Machete zerhauen, ich bezeuge es, Pater Pfeil ist in solchen Dingen nicht zimperlich. Da waren wir kaum zwei Wochen hier in San Tomás, es war ein elendiger Anblick, alles heruntergekommen, wir taten unser bestes, doch es reichte nicht. Die Affen plagten uns genauso wie die Stechmücken, wie Bienen, Ameisen, der Fluss stank nach totem Fleisch, wir hielten täglich eine kleine Messe in dem Verschlag, der einmal unser Kirchlein gewesen war, mi patre, wir beteten, wollten erlöst sein von diesen Plagen, es musste etwas passieren, es brauchte ein Zeichen, und da riss Pater Pfeil die Machete an sich, als er eines dieser Äffchen auf den Altar springen sah, ich hatte die Augen geschlossen, ich drückte sie fest zusammen, aber, mi patre, Pater Pfeil ist da nicht zimperlich. Als er den Affen auf unseren Altar pissen sah, griff er nach der Machete und haute das Tier mittenzwei, auf dem Altar, spaltete halb den Pflock noch darunter. Das Kruzifix fiel, ich warf mich ihm entgegen und hielt es, während der Pater – es muss eine Art heiliger Furor gewesen sein, mi patre, das Gesicht von Pfeil war ganz ruhig, seine Augen klar und scharf – einen weiteren Affen am Schwanz packte und ihm den Kopf abschlug, und dann warf er den Kadaver hinaus und nahm sich noch einen vor und dann noch einen, denn sie sind zutraulich, diese Äffchen, sie lassen sich füttern mit Papayas und Bananen. Ich habe jetzt keine Angst mehr, mi patre, ich liege in meiner Hängematte, ich schwitze, aber es ist so natürlich wie Atmen und Furzen, ich schwitze während ich von meinem Atem sacht bewegt werde, hin und her, ich kann die Äffchen sehen und meine nackten Füße.

Iquitos am Amazonas, 1984: Irina ist gemeinsam mit ihrem Freund Hilmar auf der Suche nach ihrem Zwillingsbruder. Thomas war Teil der Filmcrew um Werner Herzog und Klaus Kinski, ist jedoch nach Abschluss der Dreharbeiten zu »Fitzcarraldo« spurlos verschwunden. Entlang der großen Flüsse reisen die beiden in den Regenwald des Amazonasbeckens und tief hinein in die Abgründe menschlicher Hoffnungen und Sehnsüchte. Auf mehreren Ebenen erzählt »Stromland« von Verschollenen und der Suche nach dem richtigen Leben, nach unberührten Orten und neuen Wahrheiten. Dabei führt der Roman durch drei Jahrhunderte, in denen Auswanderer und Abenteurer ihre Spuren hinterlassen haben, und verknüpft Orte, Personen und Familiengeschichten über die Zeit hinweg zu einem engen Netz, in dem sich alle Figuren verfangen haben.

  • Roman
  • Hardcover mit Schutzumschlag
  • 352 Seiten
  • Berlin Verlag 2018
  • ISBN 978-3-8270-1360-6
Portraitfoto Autor Florian Wacker

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie der Erzählband »Albuquerque« (2014) und der Jugendroman »Dahlenberger« (2015). Zuletzt wurde er mit dem Limburg-Preis (2015) und dem Mannheimer Stadtschreiberstipendium für Kinder- und Jugendliteratur (2017) ausgezeichnet. Er lebt in Frankfurt am Main, wo er als Autor und Webentwickler arbeitet.